Freitag, September 22, 2006

Rezension Wir müssen über Kevin reden

Normalerweise "esse" ich etwa ein Buch pro Woche. Für dieses habe ich sechs Wochen gebraucht (okay, ich habe zwei kurze Jugendromane zwischendrin gelesen, aber die verbrauchen pro Stück nur einen Tag).

Wir müssen über Kevin reden ist ein Briefroman aus der Moderne. Eva Khatchadourian schreibt an ihren Mann, in der Hoffnung, so das Unglaubliche fassen zu können, was ihr und ihrer Familie widerfahren ist. Ihr Sohn Kevin hat ein Massaker angerichtet. In der Turnhalle seiner Schule hat er zehn Menschen zusammengetrieben und erschossen, lediglich einer hat überlebt.

Um herauszufinden, wie es dazu kommen konnte, beginnt sie, in den Briefen an ihren Mann noch einmal von der Zeit vor Kevins Geburt bis zum aktuellen Tag alles zusammenzutragen, was dorthin geführt haben könnte. Kevin war kein einfaches Kind, er sah den Sinn in Dingen und Handlungen nicht und schien alles langweilig oder ermüdend zu finden, was andere aus Zerstreuung tun. Sein einziger Zeitvertreib bestand von Klein auf in der Zerstörung, in der Hervorrufung von Wut und Trauer.

Aber so einfach ist es nicht und so einfach macht auch Eva es sich nicht. Sie schildert den ungebrochenen Optimismus, mit dem Franklin, ihr Mann, an alle Probleme heranging, die es mit Kevin gab, mit dem er Evas zaghafte Kritiken vom Tisch wischte und versuchte, ihr selber ein positives Bild vom "schwierigen, pubertierenden" Sohn zu vermitteln.

Dieses Buch enthält keine allumfassenden Weisheiten darüber, wie aus Jugendlichen Massenmörder werden können, es versucht noch nicht einmal, sie zu liefern. Und genau darin liegt seine Stärke: Dieses Buch schildert einen möglichen Weg, ohne selbst für diesen einen Absolutheitsanspruch zu fordern.

Es ist kein leichtes Buch, und man sollte es nicht unbedingt vor dem Schlafen lesen - nicht, weil es so schrecklich und grausam ist, sondern viel mehr, weil einem sonst so viele Gedankengänge und feine Zwischentöne abhanden kommen.
Die erste Hälfte ist hin und wieder etwas zäh, was daran liegen mag, dass Kevin als Kleinkind zwar Rätsel aufgibt, aber noch keine wirklichen Katastrophen auslöst, doch etwa ab der Mitte zieht einen das Buch endgültig in seinen Bann. Und bis zum Ende bleiben Fragen offen, auf deren Beantwortung man als Leser brennt. Nicht alle werden bis zur Erschöpfung beantwortet, aber man erfährt alles, was man erfahren kann, und der Anteil der nicht zu beantwortenden Fragen, die übrig bleiben, sorgt dafür, dass man das Buch nicht vergisst, sondern wohl noch lange darüber nachdenken wird. Über das Buch und ganz allgemein über die Frage: Wie kann es sein, dass ein Jugendlicher so viel Hass aufbaut, dass er eine Reihe von Menschen einfach abschlachtet?

Lionel Shriver: Wir müssen über Kevin reden.
List, 2006.
ISBN: 3-471-78679-6

2 Kommentare:

Zappadong hat gesagt…

Danke für den Tipp.

Ich hatte das Buch im Buchladen in den Händen, habe es dann aber wieder hingelegt, weil ich dachte, es sei eines dieser typisch amerikanischen Reality-Rührstücke.

Werde es nun bestellen.

Alice

chaosqueen hat gesagt…

Gern geschehen. Bin sehr gespannt, wie Du es findest! :)